Karfreitag

Karfreitag und auch Ostern fallen heuer aus.

So höre ich vielerorts.

Doch das ist nicht wahr!

Ja, unsere Gottesdienste werden nicht in der gewohnten Weise stattfinden: In der Kirche, mit der Gemeinde, mit dem gemeinsamen Abendmahl.

Aber gerade in diesem Jahr sind uns Karfreitag und Ostern näher und vielleicht auch bewusster als jemals zuvor. Gerade heuer werden wir diesen Gedenk- und Feiertag auf eine solch ursprüngliche Weise erfahren, wie schon sehr lange Zeit nicht mehr. Diesmal wird aus dem bloßen Gedenken ein echtes Mitleiden, aus der Aussicht auf Auferstehung eine ganz konkrete Hoffnung und leibhaftige Erfahrung.

Persönliche Betroffenheit, das ist es, was Menschen in der Kirche zu finden hoffen. Hierüber möchten sie abgeholt werden. Es soll mich etwas angehen, mich unmittelbar betreffen, nicht kryptisch, nicht theoretisch bleiben.

 

So seltsam es anmuten mag, so erschreckend und gleichzeitig faszinierend ist es, dass Corona es schafft, uns auf eine Weise näher an das Eigentliche zu führen, als es jede theologisch noch so korrekte und anschauliche Predigt je könnte.

 

Es ist Karfreitag, für viele evang. Christen in Österreich ein Tag der Tradition. Traditioneller Weise gehe ich in den Karfreitagsgottesdienst, höre die Passionsgeschichte Jesu, lass mir das Heilige Abendmahl spenden, singe vertraut traurige Choräle, weil ich es immer so getan habe. An Karfreitag.

Mir wurde von Klein auf gesagt, es sei unser höchster Feiertag. Darum bin ich in der Kirche. Es soll zeigen: Ich bin evangelisch.

 

Doch um Tradition geht es nicht. Das zeigt Corona jetzt auf radikale und überfallende Weise. Tradition ist lediglich das, was ich daraus gemacht habe. Der Karfreitag selbst ist weit mehr als das! Und in diesem Jahr erfahre ich es am eigenen Leib, was er alles bedeutet.

 

 

 

Karfreitag bedeutet: Einsamkeit.

Einsamkeit, die Jesus bis ins Mark getroffen hat, als er verzweifelt im Garten zu Gethsemane kniete und betete. Als er vor Angst schon fast starb. 

Begleitet von seinen Freunden und trotzdem allein. Sie haben geschlafen, anstatt für ihn da zu sein in dieser Stunde der Not. Sie schliefen in seliger Ruhe, während er hin- und hergerissen wurde zwischen Gehorsam und Glaube, Zweifel und Absage an Gottes Heilsplan.

Einsamkeit ist auch uns heuer kein Fremdwort mehr. Einsamkeit hat viele Facetten. Menschen können durch die Pandemie spüren, was es bedeutet, einsam zu sein. Einsam trotz Telefon, trotz Internet und Computer. All das ersetzt ja die persönliche Anwesenheit eines anderen nicht. Wo ich keine Wahl habe, wird plötzlich echte Sehnsucht greifbar. Sehnsucht nach dem, was ich nicht haben kann und darf. Echten zwischenmenschlichen Kontakt. Berührung. Auge in Auge voreinander zu stehen.

Noch einsamer sind die, die nicht einmal mehr jemanden haben, den sie anrufen können. Die davon abhängig waren, auf der Straße ein Gespräch beginnen zu können. Oder beim Einkaufen. Oder über den Gartenzaun hinweg.

Und Einsamkeit kann ein noch viel schlimmerer Virus sein.

 

Karfreitag bedeutet: Angst.

Angst vor den Dingen, die da kommen oder die nun ausbleiben.

Jesus hatte Angst. Er wusste, wie es für ihn enden würde. Er hatte Angst vor dem Tod und mehr noch, vor dem Sterben. Angst vor den Schmerzen, Angst vor dem Unausweichlichen, vor den Folgen. Angst um seine Freunde – davor, was es mit ihnen macht, wenn er, Jesus, nicht mehr da ist.

Auch unter uns sind derzeit etliche, die Angst haben. Eine reale, alles zermürbende Angst. Weniger vor der Krankheit an sich, mehr vor ihren Folgen.

Die Angst davor, den Job zu verlieren oder ihn bereits verloren zu haben und nun nicht mehr zu wissen, wie es weitergehen soll. Finanziell. Wie Kredite bedienen, wie Rechnungen begleichen, wie für das Leben Notwendigste aufkommen?

Hinzu kommt auch die Angst vor Isolation in allen sozialen Bereichen. Die Angst vor Verlust, nicht allein der Gesundheit – die kann in den meisten Fällen gut wieder hergestellt werden, sofern ich keiner Risikogruppe angehöre – aber vor dem Verlust von Freundschaften, Beziehungen, beruflicher Kontakte, Kundschaft. Die Angst vor Verlust des eigenen Wohlstandes, der finanziellen Sicherheiten, der geplanten Zukunft, jeglicher Perspektive.

Diese Angst kann lebensbedrohlicher sein als das Virus.

 

Karfreitag bedeutet: Schmerz.

Nicht nur körperlich, auch seelisch. Jesus litt Schmerzen, die mit nichts zu vergleichen waren. Oder doch?

Wie sieht mein eigener Schmerz aus, der mir gnadenlos bewusst macht, dass ich nicht alles kontrollieren kann? Dass ich machtlos bin, hilflos, ausgeliefert?

Der Schmerz über den Verlust persönlicher Freiheiten, die ich für so selbstverständlich gehalten habe?

Der Schmerz der Isolation und des Bewusstseins, dass nun alle Zeit an mir vorüberzieht, ungenutzt und unausgefüllt?

So ein Schmerz ist zuweilen gravierender als eine Platzwunde oder ein Schnitt in den Finger, ein gebrochener Knochen oder eine Verstimmung des Magens. Denn ich kann nicht einfach eine Tablette runterschlucken und in 10 Minuten ist der Schmerz verschwunden. Ich kann nicht einfach einen Verband anlegen oder ein Pflaster drauf kleben. Diese Art von Schmerz bohrt sich in die Seele und rumort dort dumpf und unaufhörlich.

Dieser Schmerz ist nicht so einfach zu lindern wie der einer Krankheit und sei sie noch so schlimm.

Corona – bedeutet „Kranz“. In diesem Jahr setzt das Virus uns allen die Dornenkrone auf und wir fühlen ihren drückenden, pochenden Schmerz.

 

Karfreitag bedeutet: Tod.

Das ist es, wohin er führt. In den sicheren Tod. Wie unser aller Leben.

Doch welche Tragweite hat der Tod eigentlich? Das lässt sich erst heuer so richtig begreifen.

Soziale Kontakte sterben. Beziehungen, für die jede Krise eine Zerreißprobe ist, könnten sterben. Wir können das derzeit noch gar nicht absehen. Und ja, auch Menschen sterben in erschreckend kurzer Zeit und immensem Ausmaß! Allein, teilweise ohne jeglichen Zuspruch und Kontakt. Keine Chance, sich zu verabschieden, oder einen Sterbenden zu begleiten. Keine Möglichkeit, ihm oder ihr die letzte Ehre zu erweisen.

Was das alles bedeutet, das kann nur jemand begreifen, der es am eigenen Leib erfahren hat. In diesem Jahr wird es einigen unter uns nicht erspart bleiben.

Diese Endgültigkeit, mit der der Tod in unser Leben tritt, wird durch Corona ganz neu und ganz fürchterlich nahbar an uns herangetragen.

 

Und doch, auch das bedeutet Karfreitag: Ruhe und Frieden.

Wofür ich mir sonst nicht die Zeit genommen habe, dazu werde ich nun auf geradezu liebevolle Weise durch den unsichtbaren Feind gezwungen. Ich kann zu mir selbst zurückfinden, ich darf den wirklich wichtigen Dingen nachgehen, ohne mir Gedanken über ein Zeitkontingent dafür zu machen. Corona schenkt es mir, drückt es mir geradezu auf.

Und inmitten von der sonst so alltäglichen Betriebsamkeit, der Schnelligkeit der Zeit und ihrer Anforderungen, entdecke ich plötzlich mich selbst und sogar ganz bewusst den anderen. Auf einmal bekommt dies eine ganz neue Dimension an Wichtigkeit, eine ganz neue Nähe baut sich auf. Ich halte inne und merke plötzlich, dass die Dinge, von denen ich schon immer dachte, dass sie nicht das Wichtigste im Leben sind, dass diese Dinge auch tatsächlich nicht so wichtig sind.

Weil ich jetzt Zeit habe, habe ich keine Zeit mehr, etwas herauszuschieben. Jetzt kann ich leben wie ein Hund, in der Gegenwart. Was davor war, interessiert eh niemanden mehr und was danach kommt, davon weiß noch niemand etwas zu sagen.

Das Evangelium berichtet, wie bei Jesu Tod plötzlich die Zeit zum Erliegen kam. Die Welt hielt inne, hielt ihren Atem an und schwieg. Für eine beträchtliche Zeit. Drei Tage, die endlos erschienen denen, die auf Veränderung warteten. Oder die längst nichts mehr an Veränderung erwartet haben, weil sie alle Hoffnung fahren ließen in eben jenem Moment, da die erhoffte Erlösung der Menschheit den Kampf gegen den Tod verloren hat.

 

Und so bedeutet Karfreitag auch: Zeit und Ewigkeit.

Ich erfahre meine Zeit ganz neu, ich bewerte sie ganz anders. Und gleichzeitig, wenn ich mich den Umständen, die ich nicht ändern kann, einfach hingebe, erfahre ich, was Ewigkeit im Ansatz bedeuten kann: Zeitlosigkeit. Zeitlos ist alles um mich herum geworden, weil ich nicht planen kann, das und wann es besser wird. Ich kann nur abwarten, zusammen mit dem Rest der Welt und hoffen, dass es möglichst rasch geht. Beeinflussen jedoch kann ich es nicht. Mein Zeitgefühl gerät durcheinander, weil gewohnte Abläufe, die meinen sonst so strukturierten Tag begleitet haben, auf einmal wertlos geworden sind und unsinnig.

So werde ich entschleunigt von diesem Virus und letztlich – so paradox es auch sein mag – bringt er das vielleicht Beste in mir – in uns allen – endlich wieder zum Vorschein:

 

Solidarität,

Mitgefühl,

Achtsamkeit,

längst vergessene Werte wie Familie, Freundschaften, Partnerschaften – etwas, das ich für so selbstverständlich gehalten habe und nun schmerzlich feststellen muss, wie sehr es mir fehlt,

den Zauber des Carpe Diem– einfach zu leben, ohne Erfolgsdruck, ohne nach Profit zu schielen, ohne mich zur Eile anzutreiben.

 

Ich flüster ein leises Dankeschön an Corona, als meine Chance, endlich wieder zu dem Menschen zu werden, der ich immer sein wollte, aber es aus Zeitgründen oder Ähnlichem nie geschafft habe zu sein; ein Mensch, von dem ich immer gewünscht habe, dass er da bleibt, nicht nur für einen winzigen Augenblick, sondern möglichst für immer.

 

Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, bleibt es allein.

So lautet ein wohlbekannter Satz des Evangeliums nach Johannes, der das Mysterium um Jesu Tod eindrücklich metaphorisch beschreibt.

Corona verwandelt uns alle ungefragt in jedweder Weise in Weizenkörner. Allein sind wir machtlos, ungeschützt, schwach und bedürftig.

Ob wir aus dieser Prüfung gestärkt erwachsen, wird sich erst noch zeigen müssen.

Auferstehung ist nicht heute, nicht schlagartig –  sie braucht Zeit. Sie nimmt sich ihre Zeit. Doch sie wird kommen! Sie wird folgen, auf den Tod, auf das Virus.   

 

Gott segne Sie, er segne uns alle. Bleiben Sie gesund und behütet.

Amen.